In der guten „alten“ Zeit wurden Werte, Normvorstellungen und Riten, die die Verhaltensweisen der Gesellschaft prägten, von der Großeltern- und Elterngeneration vorgelebt.
Die 68er Generation hat diese Werte und den rigiden Erziehungsstil dann über Bord geworfen, hat Konventionen verachtet und hat genau das Gegenteil davon gemacht, was die Gesellschaft bisher gefordert und erwartet hatte.
Die Verunsicherung der Nachkommen dieser Generation ist groß, weil die Identifikation mit ihren Vorbildern zwiespältig ist. An die Schulen wurde delegiert, die vorhandenen Defizite auszugleichen und den Kindern einen sozial- und emotional-kompetenten Umgang miteinander beizubringen. Längst wissen wir, dass das nicht funktioniert. Es kann nicht die Aufgabe der Schule sein, Werthaltungen zu vermitteln, die zu Hause nicht vorgelebt werden.
Umgangsformen geben Sicherheit und Identität
Umgangsformen geben laut einer Untersuchung des IMAS-Instituts Wien Sicherheit und Identität. Im IMAS-Report „Der gute Ton als Identitätsstifter“ wird beschrieben, dass 62 Prozent der ÖsterreicherInnen (Untersuchungen dieser Art bringen in Deutschland und in der Schweiz ähnliche Ergebnisse) sagen, dass Umgangsformen „sehr wichtig“ sind. Nur 29 Prozent sagen, dass sie „einigermaßen wichtig“ sind und nur 8, dass Etikette und Stil „unwichtig bzw. ganz unwichtig“ sind.
Frauen und Personen der Generation 50+ legen besonders viel Wert auf den guten Ton. Das kann ich als Expertin für Umgangsformen ausdrücklich bestätigen. Aus der Untersuchung geht auch hervor, dass es insbesondere drei Verhaltensweisen gibt, die für extrem schlechtes Benehmen stehen. Dazu gehören: Zu einem vereinbarten Termin ohne Absage nicht zu erscheinen.
Husten oder Niesen, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Älteren Menschen im Zug oder im Bus nicht den Platz freizumachen. Weitere Verhaltensweisen, die aufgelistet wurden: Kein Waschen der Hände nach dem Toilette-Gang, Unpünktlich-Sein, nicht zu grüßen, mit vollem Mund zu sprechen, bei Tisch zu rauchen, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben, beim Autofahren dem anderen den Vogel zu zeigen, Zigarettenkippen auf den Boden werfen, bei anderen Handys, IPads, Zeitungen oder Büchern mitzulesen …
Es wurde auch nachgewiesen, dass sich der Ärger über nicht abgeschaltete Mobiltelefone in öffentlichen Gebäuden, wie Kino, Krankenhaus, Theater…, das Duzen fremder Personen sowie viel zu lautes Telefonieren in Zügen oder Bussen erheblich vergrößert hat. Für mich sind die Ergebnisse dieser Untersuchung ein deutliches Indiz dafür, dass es für viele Zeitgenossen eindeutig zu viel schlechtes Benehmen gibt – Tendenz steigend.
Wie denken wir über Umgangsformen?
Die Untersuchung hat auch erforscht, wie Probanden über Umgangsformen denken. Es gibt unterschiedliche Ansichten über angemessene Verhaltensweisen, je nachdem, was der Einzelne für wichtig erachtet, ob er eher konservativ denkt oder eher fortschrittlich. Da gibt es ein breites Spektrum. Für die einen sind Umgangsformen sehr wichtig, weil sie für die Gesellschaft identitätsstiftend sind und eine gewisse Ordnung und Sicherheit im Umgang mit Menschen bringen.
Andere wiederum meinen, dass es nicht leicht sei, über alles Bescheid zu wissen, weil es so viele Regeln gibt, dass man kaum noch durchblickt. Sie fragen sich zu Recht, wie man sich orientieren kann, um alles richtig zu machen. Oder sie argumentieren, dass sich die Gesellschaft verändert hätte, viele Umgangsformen verzopfte, alte Hüte oder aus der Mode gekommen und daher nicht mehr zeitgemäß seien.
Schnell einen Kurs für gutes Benehmen buchen?
So einfach ist es leider nicht. Gutes Benehmen und perfekte Umgangsformen müssen trainiert und in den Alltag integriert werden, da reicht ein Schnellkurs nicht aus. Sie müssen echt sein und mit Emotion gelebt werden, damit sie Teil der Identität sind.
Gutes Benehmen bedarf neben dem Wissen um „gute Umgangsformen“ der sozialen und emotionalen Kompetenz. Eigenschaften, die mann oder frau neben einer entsprechenden genetischen Anlage in deren Kindheitstagen vorgelebt bekommen und somit erlernt haben. Hoffentlich.
Jeder, der anderen Menschen mit Empathie begegnet, wird älteren Personen einen Platz anbieten und an öffentlichen Plätzen in angemessener Lautstärke telefonieren. Er wird anderen Menschen respektvoll begegnen und pünktlich sein. Mitmenschen, die über sehr gute Umgangsformen verfügen, empfinden wir als sympathische Zeitgenossen.
In ihrer Gesellschaft fühlen wir uns entspannt, weil sie in der Lage sind, auch mal die Etikette zu brechen, wenn es die Situation und die Menschlichkeit erfordert. Sie überzeugen uns mit ihrer Identität, mit ihrem Stil und mit ihrem Feingefühl, mit dem sie intuitiv wissen, was im Moment gerade richtig ist.